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Genmanipulation bekämpfen oder regeln?

«Regeln für den Menschenpark»
ist eine Rede, die der Philosoph Peter Sloterdijk erstmals am 15. Juni 1997 in Basel und in leicht veränderter Form erneut am 17. Juli 1999 auf Schloss Elmau (Oberbayern) gehalten hat und die im selben Jahr als Buch erschien. Der Text löste ab Ende August 1999 eine intensive öffentliche Debatte über die Anwendung von Biotechnologie auf den Menschen aus.
Eine Pointe ist die Feststellung, die Zähmung des Menschen sei eine Frage der Wahl des richtigen Unterhaltungsmediums: Buch oder Stadion. (obc: Sloterdijk scheint die Genetik als Fortsetzung der humanistischen Zähmung des Menschen lediglich mit anderen Mitteln zu verstehen, nämlich als 'positive' Eugenik. Siehe Abschnitt ‚Kritik‘.)

Medienwahl, Aufklärungskritik, Sklavensprache und 'Humanismus als ein Züchtungsprojekt'
▪  Zunächst die sogenannte Medienwahl. Buch oder Stadion: Sloterdijk plädiert für einen Verzicht auf brutalisierende Medien. Er stellt sich mit diesem Thema in die Tradition der Kritik an der Kulturindustrie (vgl. das entsprechende Kapitel in der Dialektik der Aufklärung).
▪  Dann die Aufklärungskritik in der Tradition von Horkheimer und Adorno: Im Mythos sind aufklärerische Elemente und in der Aufklärung regressive Elemente vorhanden. Habermas hat dies in Bezug auf das Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung die „Verschlingung von Mythos und Aufklärung“ genannt. Bei Sloterdijk kommt dies in der Notiz zum Ausdruck, dass in der Philosophie Platons ein reaktionäres modernes Element vorhanden sei, das Weber-Gleichnis.
▪  Sodann das Thema der Sklavensprache: Hierbei ging es ursprünglich um den Trick, Marx’sche Theorie ohne Marx’sche Begriffe zu betreiben, sie in neutralen Redewendungen zu verstecken. Sloterdijk macht dies, indem er Heidegger materialistisch umdeutet. Er versteckt damit in Heideggers Metaphysik eine modernere Variante des Denkens, als Heidegger dem Wortlaut seines Werkes nach zu vermitteln suchte.
▪  Schließlich kommt noch ein Gedanke in der Tradition Nietzsches dazu: Die Menschen haben schon immer ein Züchtungsprojekt betrieben und es unter dem Deckmantel der Humanität verborgen. Diese inhaltlichen Details wurden als eine Spitze gegen die Kritische Theorie wahrgenommen. Sloterdijk hat – im Gewand der Kritischen Theorie – Themen angesprochen, die leicht als reaktionäre politische Thesen verstanden werden können: als Plädoyer für eine positive Eugenik (im Sinne Francis Galtons).

Humanismus, Heidegger, Nietzsche, Platon
Der Humanismus gründet in der Buchkultur der griechisch-römischen Epoche. Die Römer übermitteln die antike Flaschenpost. Die Alphabetisierten als geistige Elite geben ein Muster für die bürgerliche Gesellschaft. Nur die Schriftkultur kennt demiurgische Menschen-Schöpfungsmythen wie den Golem. Die von Wehrpflicht und Schulpflicht erzeugte Fiktion der nationalen Identität einer bewaffneten und belesenen bürgerlichen Gesellschaft ist heute an ihr Ende gekommen durch die Ablösung der Buchkultur von neuen Medien. In Rom war der Dualismus von Buchkultur und Verwilderung der Massen in den Stadien sprichwörtlich. Hier wurde das Konzept des Humanismus erfunden: Zähmung des Menschen durch die richtige Lektüre. Die Medienwahl – Buch oder Stadion – entscheidet über das Wesen des Menschen.
 Der Begriff des Humanismus kann nicht gerettet werden, denn er war stets ein Komplize menschlicher Gräueltaten. Martin Heidegger stellt die Epochenfrage neu und antwortet: der Mensch ist der Hüter des Seins. Die Sprache ist das Haus des Seins. Die Lichtung ist der Ort, an dem das Sein aufgeht. Sloterdijk historisiert den Begriff der Lichtung: Während der Hominisation des Menschen markiert die Grenze zwischen Natur- und Kulturgeschichte den Ort der Lichtung, seine Frühgeburtlichkeit (Neotenie) löst diesen Prozess aus. Die erste kulturelle Leistung des Menschen ist der Hausbau. Haus, Mensch und Tier stehen von nun in einem biopolitischen Komplex.
Nietzsche: Zarathustra erläutert, was das heißt: Menschen werden für Häuser selektiert. So wie der Mensch Tiere züchtet, so hat der Mensch Menschen gezüchtet für die Häuser, die er baut. Hinter dem heiteren Prospekt der schulischen und literarischen Menschenzähmung findet sich der dunkle Horizont der Menschenzüchtung. Nach Nietzsches Entschleierung der Menschheitsgeschichte als Züchtungsprojekt gilt es Regeln für einen zukünftigen Menschenpark aufzustellen.
Platon gibt im Weber-Gleichnis das Urbild einer gesellschaftlichen Utopie von Menschenzüchtern. Platons idealer Züchter ist ein Gott oder ein dem Gott nahestehender Hirten-König.
(Wikipedia 30. 12. 21: Die argumentative Entwicklung Sloterdijks im Detail . . .)

Platons Weber-Gleichnis und ‚die idealen Hirten‘(?)
Die Aktualität des Weber-Gleichnisses wird deutlich, wenn man die Inhalte des Aufsatzes Revue passieren lässt: Das humanistische Gymnasium, die faschistische Eugenik, das kommende biotechnologische Zeitalter: Eine humanistische Gesellschaft, die sich in einem „Vollhumanisten“ verkörpert, dem idealen Hirten. Der ideale Hirte war schon immer der Gott, aber im Zeitalter des Zeus, nach der Götterdämmerung, haben sich die Götter zurückgezogen. Jetzt sind die Menschen gezwungen, sich selbst zu hüten. Der wahre Hirte kann aber nur ein dem Gott nahestehender Weiser sein. Heute haben sich auch die Weisen zurückgezogen, es bleiben nur ihre Schriften.

Wer wagt es, Regeln für den Menschenpark aufzustellen?
Die Metaphorik der Flaschenpost ist der Kritischen Theorie entliehen. Ein philosophisches Thema wird in ein soziologisches Phänomen überführt: Humanismus und Massenkultur. Auch hier lehnt sich Sloterdijk an die Kritische Theorie an, explizit an das Kapitel über die Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung. Eine Pointe ist die Feststellung, die Zähmung des Menschen sei eine Frage der Wahl des richtigen Unterhaltungsmediums: Buch oder Stadion.
Heideggers Kritik am Humanismus wird von Sloterdijk durch eine Einbindung von dessen Zentralbegriff der Lichtung in einen gattungsgeschichtlichen Kontext materialistisch kritisiert. Was der von Heidegger geprägte Begriff vom Hüter des Seins und dem Kontext von Mensch, Haus und Tier bedeutet, wird durch einen Rückgriff auf Nietzsche erläutert: Zur Zähmung des Menschen trat schon immer seine wirkliche oder vermeintliche Züchtung durch seine Herren.
Das Thema der Verschlingung von Mythos und Aufklärung illustriert Sloterdijk am Beispiel von Platons Politikos: Das Urbild einer zukünftigen Anthropotechnik scheint hier ebenso auf wie Heideggers Fundamentalkritik am Humanismus.
Sloterdijks Botschaft in der Flaschenpost lautet: die gefährlichen Themen der Philosophie in der Tradition Nietzsches aufgreifen. Wer wagt es, Regeln für den Menschenpark aufzustellen?

Kritik
Ernst Tugendhat kritisiert in einem Artikel in der Zeit vom 22. Dezember 1999 Sloterdijks These, Moral sei die „Zähmung des Wilden“ und müsse jetzt das Ergebnis genetischer „Zähmung“ werden. Sloterdijk ignoriere, dass Moral nicht dem Bereich der Natur zugehöre, sondern der Kultur und daher nicht Ergebnis von genetischer Züchtung werden könne. Es gebe höchstwahrscheinlich keine Gene für bestimmte Moralvorstellungen. Allerdings deckt sich diese Kritik nicht mit dem, was Sloterdijk in „Regeln für den Menschenpark“ schreibt. Im ganzen Text findet sich nur ein Satz zum Thema der genetischen Manipulation (S. 46/47) und dieser Satz enthält keine These, sondern nur Fragen: „Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird...dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“
Tugendhat kritisiert Sloterdijk außerdem für seine begriffliche Nähe zu Konzepten von Nietzsche und den Nazis, die auch ein Programm der „Selektion“ durch Macht vertreten hätten. Auch hier gilt: Der Text von Sloterdijk enthält keinen Hinweis auf Selektion durch Macht. Sloterdijk erwähnt und zitiert Nietzsche und weist ausdrücklich darauf hin, dass die Nazis Nietzsche mißbrauchten. „...- wie die gestiefelten schlechten Nietzscheleser der 30er Jahre wähnten.“ Tugendhat endet: „Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, worum es dem Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas in diesem Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich habe nichts gefunden.“
Die durch Sloterdijks Rede ausgelöste Kontroverse um das Thema der Eugenik veranlasste Jürgen Habermas 2001 zu der Veröffentlichung 'Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?'.
Manfred Frank kritisiert Sloterdijk in einem offenen Brief in der Zeit für die sprachliche Form seiner Beiträge zur Eugenik, die oft unklar sei und „Geraune“ darstelle. Zudem wirft Frank Sloterdijk vor, inkonsistent zu sein, weil er einerseits das Problem der Menschenzüchtung ontologisiere und behaupte, Menschen könnten dieses Problem nicht handelnd nach moralischen Maßstäben lösen, sondern seien ihm unterworfen, andererseits aber selbst moralische Kriterien fordere, mit denen über Züchtungen entschieden werden könne

▪ Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Suhrkamp, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-518-06582-2 (Nachdruck der ersten Auflage von 1999)

Wikipedia 31.12. 21